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20. Juni 2023: Ohne Pferde und mit Pinguin

Heute steht die erste Hälfte des Abends im Zeichen des “Scot t Fests” an der Uni Mainz am 8.7., wo wir einige Tänze vortanzen wollen. Ferner unterrichtet Marie zum ersten Mal einen Tanz! Nach der Pause geht es weiter mit Tänzen von kurz bevorstehenden Veranstaltungen.

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The Machine without Horses ist ein Tanz aus der Sammlung Twelve Selected Country Dances … for the year 1772, wiederveröffentlicht von der Society in Buch 12. Gut geeignet für nicht so erfahrene Tänzer:innen bietet er sich auch für Maries Debüt als Lehrerin an, das sie sehr souverän und erfolgreich absolviert.
Dampfwagen von Cugnot (1770), aus “Horseless Vehicles” von Gardner D. Hiscox, New York 1900
Dampfwagen von Cugnot (1770), aus “Horseless Vehicles” von Gardner D. Hiscox, New York 1900
– Was die Herkunft des Namens angeht, gibt es verschiedene Hypothesen. George Emmerson verweist in Scotland Through Her Country Dances apodiktisch darauf, dass es 1772 noch keine “horseless carriages” gab und dass der Name darum auf eine Sänfte hindeutet, wie sie im 18. Jahrhundert zum Beispiel in Edinburgh gebräuchlich war (wo vor allem vornehme Damen auf dem Weg zum Tanzen sich nicht dem unbeschreiblichen Schmutz der Straßen aussetzen wollten). Jeannie Sharp hingegen erwähnt zwei verschiedene Vehikel “ohne Pferde” – unter anderem den Dampfwagen von Nicholas Joseph Cugnot (1725–1804), ein dreirädriges Gefährt, das von einer Dampfmaschine über das einzelne Vorderrad angetrieben wurde. Es erreichte eine Geschwindigkeit von 2½ Meilen pro Stunde, was allerdings auch daran lag, dass man alle 30 Meter oder so anhalten musste, um neuen Dampf aufzubauen. Diese “Maschine ohne Pferde” wurde 1770 der Öffentlichkeit vorgestellt; auch wenn sie nicht besonders praktisch war, könnte sie also durchaus als Inspiration für den Tanz gedient haben. Genau herausfinden läßt sich das natürlich nicht.

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Der populäre Tanz The Piper and the Penguin stammt aus der Scotia Suite, einer Sammlung von Tänzen, die 2002 von der RSCDS und der Royal Scottish Geographical Society herausgegeben wurde, um die Scottish National Antarctic Expedition zu feiern, die unter der Leitung von Dr. William Speirs Bruce von 1902 bis 1904 die Antarktis erforschte. Die 7 Tänze im Buch stammen von Roy Goldring, mit Musik von Muriel A Johnstone.

Dudelsackspieler Kerr (rechts) spielt für einen indifferenten Pinguin
Dudelsackspieler Kerr (rechts) spielt für einen indifferenten Pinguin (Royal Scottish Geographical Society)
The Piper and the Penguin ist einer von zwei Tänzen im Square Set (der andere ist der Strathspey, The Ice Cap) und wurde inspiriert von einem Foto, das den Dudelsackspieler der Expedition, Gilbert Kerr, in vollem Hochland-Ornat zusammen mit einem Kaiserpinguin zeigt. Angeblich wollte Dr. Speirs Bruce wissen, wie der Pinguin auf die Dudelsackmusik reagiert. Allerdings blieb dem armen Vogel kaum etwas übrig, als das Geheul stoisch auszuhalten, war er doch an einem großen mit Schnee gefüllten Kochtopf (nicht im Bild) festgebunden. (Heutzutage würde diese Sorte Experiment wegen offensichtlicher Tierquälerei nicht mehr an der Ethikkommission vorbeikommen.) Dieses Foto wurde zu einer Postkarte gemacht und war als solche eines der ersten Objekte, die per Post aus der Antarktis verschickt wurden. 2016 gelangte das Foto zu einer gewissen Berühmtheit, als Alan Ferrier auf Twitter darauf mit den Worten “Wer hätte geglaubt, dass die perfekte Wikipedia-Bildunterschrift noch verbessert werden konnte?” hinwies. Was war passiert? In der Wikipedia war das Bild mit der Unterschrift Piper Kerr, a member of the Scottish National Antarctic Expedition, plays the bagpipes for an indifferent penguin, March 1904 enthalten gewesen – aber eine geniale Person hatte das zu Piper Kerr (right), a member … geändert. Leider blieb dies aber nicht dauerhaft erhalten (“abgelehnt von der Humorpolizei”, wie Alan Ferrier meinte). Alan Ferriers Tweet wurde immerhin über 91.000 mal “geliket” und knapp 50.000 mal “retweetet”. Unter anderem wies ein Benutzer darauf hin, dass Kerr einen Orden “für wertvolle Dienste” auf der Expedition bekam, der Pinguin dagegen unfairerweise nicht. Kerrs Dudelsack wurde 1914 an das 1. Edinburgh-Batallion der Royal Scots weitergegeben und ging während der Schlacht an der Somme verloren. (Im Scotia-Suite-Buch ist ein anderes Foto abgedruckt, auf dem man den Kochtopf und das Seil deutlich sehen kann.)

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Um kaum einen anderen Tanz ranken sich so viele Legenden wie um The Reel of the 51st Division aus dem “Victory Book” der RSCDS von 1945 (vulgo “Buch 13”). Die 51st (Highland) Infantry Division war eine leichte Infanteriedivision, die 1940 in Frankreich an der Seite der Franzosen unter Weygand kämpfte, um die deutsche Invasion abzuwehren. Während andere britische Einheiten über Dünkirchen evakuiert wurden (auch ein Stoff für Legenden), hatte die 51st Division die Order, weiterzukämpfen, um die Franzosen zu motivieren – ein letztendlich erfolgloses Unterfangen. Die Befehlshaber der Division beschlossen, ihre Befehle zu missachten und sich zur Küste vorzukämpfen, die die meisten Regimenter (die Seaforth Highlanders, die Cameron Highlanders, die Gordon Highlanders und die Black Watch) bei St Valéry-en-Caux erreichten. Dort wurden sie von fünf deutschen Divisionen unter Rommel eingekreist und konnten wegen Nebel und fortwährendem Artilleriebeschuss nicht evakuiert werden; nach einem mutigen Ausbruchsversuch und praktisch ohne Munitionsreserven musste Generalmajor Victor Fortune, der kommandierende Offizier der 51st Division, am 12. Juni 1940 kapitulieren. Über 10.000 Offiziere und Mannschaften kamen in deutsche Kriegsgefangenschaft.

Soldaten der 7th Argyll and Sutherland Highlanders, 51st Highland Division, halten eine Position in der Gegend des Flusses Bresle, 6–8. Juni 1940
Soldaten der 7th Argyll and Sutherland Highlanders, 51st Highland Division, halten eine Position in der Gegend des Flusses Bresle, 6–8. Juni 1940 (Imperial War Museum, gemeinfrei)
Während die 51st Division schnell neu aufgebaut wurde, landeten einige Offiziere der ursprünglichen Division im Kriegsgefangenenlager Oflag VII-C in Laufen, in der Nähe von Salzburg. Nachdem Offiziere nicht zum Arbeiten gezwungen werden durften, hatten sie Zeit übrig und gründeten unter anderem einen Tanzkurs. Zunächst mussten sie klatschen und zählen, später gelang es, über das Rote Kreuz an Musikinstrumente zu kommen (etwa ein Akkordeon). Man tanzte in Militäruniformen und Stiefeln statt Kilts und Ghillies, und das Repertoire bestand aus Tänzen, die die Soldaten kannten, und auch neuem Material, darunter dem The Reel of the 51st Division.

Der Erfinder des Reel of the 51st, Lt. Jimmy Atkinson (7th Argyll & Sutherland Highlanders), war schon an der Somme gefangengenommen worden (und nicht erst in St. Valéry), traf aber im Oflag VII-C wieder auf Lt. A. P. J. (Peter) Oliver (4th Seaforth Highlanders) und Lt. Col. Tom Harris Hunter (51st Division Logistics Group RASC). Atkinson hatte vor dem Krieg “ein bisschen” getanzt und grübelte auf dem Marsch ins Kriegsgefangenenlager darüber, dass das Balance in line aus dem Tanz Scottish Reform sich auf der Diagonalen gut machen würde, nachdem man zum Corner gesettet und ihn gedreht hatte. Danach dann ein Kreis wie in Hamilton House, aber wie anfangen? Atkinson hatte keine zündende Idee.

Generalmajor Victor Fortune, Kommandant der 51st (Highland) Division, in seinem Hauptquartier in Le Caudroy am 8. Juni 1940
Generalmajor Victor Fortune, Kommandant der 51st (Highland) Division, in seinem Hauptquartier in Le Caudroy am 8. Juni 1940 (Imperial War Museum, gemeinfrei)
Lt. Peter Oliver leitete den Tanzunterricht im Oflag VII-C, und Atkinson beschrieb ihm im November 1940 seine Idee. Die beiden brachten den Tanz in eine verwendbare Form, hatten aber immer noch keinen guten Anfang. Die ersten acht Takte kamen schließlich von Lt. Col. Tom Harris Hunter, der vor dem Krieg Vorsitzender der Perth and Perthshire Branch der SCDS (damals noch ohne “R”) gewesen war und darum als die größte Autorität zum Thema “Country Dancing” im Lager galt. Wenig später wurden einige der Offiziere auf andere Kriegsgefangenenlager in Polen und später an der Schweizer Grenze verteilt, aber sie kamen schließlich alle wieder zusammen – im Herbst 1941 im Oflag VI-B in Warburg, Westfalen. Dort (an Halloween) wurde der Tanz zum ersten Mal offiziell vorgeführt, und Generalmajor Fortune, dem die Offiziere den Tanz wegen seiner Verdienste um die Kriegsgefangenen gewidmet hatten, hieß ihn (und den Namen 51st Division Reel) förmlich gut.

Später gelang es Lt. Col. Harris Hunter, eine Beschreibung des Tanzes an seine Frau in Perth zu schicken (nicht ganz einfach, da die deutsche Zensur die Tanzbeschreibung zunächst für eine Art Geheimcode hielt und sie nicht weiterleiten wollte). Dort wurde der Tanz ungeheuer populär, und Kopien der Tanzbeschreibung wurden zugunsten des Roten Kreuzes verkauft (Jean Milligan, die Mitgründerin der Society, soll über 160 Pfund Sterling erlöst haben, damals noch richtig viel Geld). Bei dieser Gelegenheit wurde der Tanz auch in St Valéry Reel umbenannt.

Zur Veröffentlichung durch die SCDS kam es dennoch nur auf Umwegen. Die Society tat sich damals noch schwer mit der Idee, neu geschriebene Tänze zu publizieren. Dazu musste erst eine Delegation der SCDS die damalige Königin Elizabeth (die Frau von George VI. und Mutter der 2022 verblichenen Elizabeth II.) besuchen. Das SCDS-Bulletin von 1944 beschreibt das so:

Mrs Hamilton-Meikle (die Vorsitzende) bat Ihre Majestät in einigen wohlgesetzten Worten, das Buch (eine gebundene Ausgabe der Bücher 1–12) als Zeichen der Loyalität und Zuneigung der SCDS für den Thron zu akzeptieren; dann reichte Mrs Stewart (die Vizepräsidentin) das Buch der Königin, die augenscheinlich sehr erfreut und interessiert war, und im Verlauf ihrer Antwort ihre Wertschätzung für die Arbeit der Society beim Sammeln und Veröffentlichen von Tänzen aus verschiedenen Teilen des Landes kundtat. Als sie von dem Tanz The 51st Division Reel hörte, der aus einem deutschen Kriegsgefangenenlager geschickt worden war, sagte Ihre Majestät, sie hoffe, er werde eines Tages veröffentlicht.

An diesem Punkt konnte die Society nicht anders, als den Tanz bei der allernächsten Gelegenheit abzudrucken, und das war Buch 13. Dort hieß er dann wieder The Reel of the 51st Division, weil es weitaus angebrachter schien, die Tapferkeit der Divison hervorzuheben, als die schmähliche Niederlage in St. Valéry.

Die Originalmusik von Hector Ross (4th Seaforths – London Scottish) ist leider verlorengegangen. Das heute übliche Stück, The Drunken Piper, kam bei der Veröffentlichung durch die SCDS dazu.

Soviel zu den Tänzen für den Auftritt auf dem Scot t Fest in Mainz am 8. Juli. Nach der Pause widmen wir uns noch ein paar Tänzen vom Rhein-Main-Mini-Social am kommenden Dienstag und dem Ball in Schlüchtern am Samstag:

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Anna Holden's Strathspey von John Drewry kann man getrost als “modernen Klassiker” bezeichnen. Inspiriert von The Braes of Mellinish (Buch 25) feiert er Anna Campbell Holden, die legendäre Tanzlehrerin der RSCDS Birmingham Branch, RSCDS-Prüferin und lange Jahre Direktorin der Summer School in St. Andrews. (Entsprechend heißt die Musik für den Tanz, komponiert von Muriel A Johnstone, auch The 60th Summer School.) Anna Holden ist schon seit den frühen 1990er Jahren nicht mehr unter uns, aber einige unserer älteren Mitglieder haben sie noch persönlich erlebt.

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Im Vergleich eher unbekannt ist Livia Kohns Tanz, The Alley Cat, aus The Suncoast Collection. Er greift die ungewöhnliche Figur Allepousse auf, die eine Allemande für das “vordere” Paar mit einer Poussette für das “hintere” Paar kombiniert. Ursprünglich erfunden wurde diese Figur von Frans Ligtmans aus Eindhoven in ihrem Tanz Grand Chain And Allepouss [sic], wo sie allerdings von 4 Paaren (!) getanzt wird (die unteren drei Paare tanzen alle die Poussette als “zweites Paar”). In The Alley Cat (Achtung: Wortspiel mit Allepousse) dagegen tanzen die zwei “oberen” Paare im Set die Allepousse nach oben und die zwei “unteren” Paare, die seitenverkehrt tanzen, die Allepousse nach unten.

Bei diesem Tanz sieht man auch, wie nützlich das Internet sein kann: Heute früh fiel mir auf, dass die Tanzbeschreibung im Buch anscheinend einen Fehler enthielt, was die Allepousse für die unteren beiden Paare anging – die Paare waren vertauscht, so dass das Paar am Ende des Sets die Poussette und das in der Mitte die Allemande hätte tanzen sollen, was merkwürdig gewesen wäre. Aber das Diagramm von Keith Rose und das MiniCrib waren genauso! Ich beschrieb die Situation auf der Strathspey-Mailingliste, und diverse Leute antworteten mir mit Livias E-Mail-Adresse. Wenig später kam sogar eine Antwort von Livia selbst, der jemand meine Anfrage weitergeleitet hatte und die mir recht gab – ein Dreckfuhler im Buch! Ich habe das jetzt an Keith und das MiniCrib-Team weitergeleitet, und siehe da, das Diagramm (oben rechts) ist bereits korrigiert! Das MiniCrib wird sicher in der nächsten Ausgabe folgen. Es ist beeindruckend, wie schnell so etwas gehen kann – vor nicht allzulanger Zeit (20 Jahre oder so) hätte es Wochen oder Monate gedauert, dies auszusortieren.

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Den Abschluss für heute bildet Edwin Werners Tanz The Drunken Sailor. Edwin ist den meisten hier wahrscheinlich als Pianist von Kursen und Bällen bekannt, aber er erfindet auch gute Tänze! Dieser hier hat vage Echos von The Sailor (Buch 24), aber ist im Endbereich eines Ballprogramms – wie in Schlüchtern – sicher gut aufgehoben. Und wer mitsingen möchte, sollte sich keinen Zwang antun … (Unsere Musik war von The Music Makars aus Kanada.)

#NameTypeSetSource
1Britannia Two StepX163pRRGuide (ex-Collins)
2The Machine without HorsesJ323/4LRutherford: RSCDS XII
3The Piper and the PenguinR884SGoldring: RSCDS Scotia
4The Reel of the 51st DivisionR323/4LAtkinson: RSCDS XIII
5Anna Holden's StrathspeyS322/4LDrewry: RSCDS XLII
6The Alley CatJ324/4LKohn: Suncoast Coll
7The Drunken SailorR323/4LWerner

Text: Anselm Lingnau · Fotos: wie angegeben