Schottland und der heilige Andreas
Am 30. November – dem Tag des heiligen Andreas – begeht Schottland seinen Nationalfeiertag. Aber was hat der heilige Andreas mit Schottland zu tun?
Was die Verbindung von Andreas zu Schottland angeht, gibt es mehrere Hypothesen. Die eine sagt, dass er es als weitgereister Apostel tatsächlich bis nach Schottland schaffte und dort eine Kirche gründete (natürlich in St. Andrews), die zu einem wichtigen Wallfahrtsort wurde. Belege dafür gibt es natürlich nicht im geringsten. Eine zweite fromme Legende verweist auf den heiligen Regulus (“St. Rule” im angelsächsischen Sprachgebrauch). Dieser wirkte wohl im 4. Jhdt. in Patras als Mönch oder Bischof – Genaues weiß man nicht – und wurde im Jahr 345 in einem Traum von einem Engel darauf aufmerksam gemacht, dass der Kaiser Konstantin beschlossen habe, die Reliquien des heiligen Andreas von Patras nach Konstantinopel umzuziehen (Konstantin “der Große”, der die Christenverfolgung im Römischen Reich offiziell beendet hatte, war zwar schon 337 gestorben, und auch sein Sohn Konstantin II. war 340 in Italien ermordet worden, aber naja). Der Engel beauftragte Regulus damit, so viele Knochen wie möglich so weit wie möglich ans “Ende der Welt” zu schaffen, dort dem heiligen Andreas eine Kirche zu bauen, und die Reliquien so in Sicherheit zu bringen. Angeblich hatte Regulus, als er sich auf den Weg machte, einen Zahn des heiligen Andreas im Gepäck, eine Kniescheibe, einen Oberarmknochen und drei Finger von dessen rechter Hand. (Der größte Teil des Rests kam tatsächlich ungefähr um 357 nach Konstantinopel und wurde dort in der – heute nicht mehr existenten – Apostelkirche untergebracht. Bei der Plünderung Konstantinopels durch französische und venezianische Kreuzfahrer 1204 wurden diverse Reliquien nach Westeuropa verschleppt; der päpstliche Legat Kardinal Peter von Capua brachte die Überreste des heiligen Andreas zu deren Schutz (!?) in seine Heimatstadt Amalfi. Heute befinden sich Reliquien des heiligen Andreas außer in Patras, im Dom von Amalfi und in Schottland noch in der Kathedrale von Sarzana in Italien sowie der Kirche des hl. Andreas und des hl. Albert in Warschau, Polen, außerdem in kleineren Mengen anderswo. Es ist kompliziert.)
Je nachdem, welchem Bericht man glauben will, wurde Regulus entweder von einem Engel angewiesen oder durch einen Schiffbruch genötigt, am Ufer des Königreichs Fife im Osten von Schottland an Land zu gehen, namentlich bei einer piktischen Siedlung namens Kilrymont, dem heutigen St. Andrews. Dort traf er angeblich den Piktenkönig Óengus (der allerdings in Wirklichkeit im 8. Jhdt. lebte, aber naja). Wieder andere Quellen behaupten, Regulus sei ein irischer Mönch gewesen, der am Ende des 6. Jahrhunderts zusammen mit dem hl. Columban aus Irland vertrieben wurde.
Legenden zufolge, die in Quellen aus dem 16. Jhdt. niedergeschrieben wurden, führte der Piktenkönig Óengus II. im Jahr 832 eine Armee von Pikten und Skoten gegen Æthelstan, den König der Angeln, ins Feld. Es kam zu einer Schlacht in der Nähe des heutigen Athelstaneford in East Lothian. Óengus’ Heer befand sich deutlich in der Unterzahl und am Vorabend gelobte der König, im Falle eines Sieges den hl. Andreas zum Nationalhelden von Schottland zu erklären. Am Morgen der Schlacht bildeten weiße Wolken ein X am blauen Himmel, diese offensichtlich göttliche Intervention motivierte die Pikten und Skoten zum Sieg, und das Design des Saltire, der schottischen Flagge, war geboren. So jedenfalls die Sage. Schon vorher – 664 – hatte die keltische Kirche auf der Synode von Whitby vermutet, dass Petrus ein “höhergestellter” Heiliger sei als Columban, und dass Petrus’ Bruder Andreas daher wohl einen besseren Schutzheiligen abgeben dürfte als der kurz vorher verblichene Ire.
Den heiligen Andreas als Nationalheiligen zu zementieren war im späten Mittelalter ein wichtiger politischer Schritt, weil England die Oberherrschaft über Schottland beanspruchte und die schottische Kirche die Behauptung abwehren musste, dem Erzbischof von York untergeben zu sein. Die Legende vom heiligen Regulus, die schon im 4. Jhdt. die Reliquien eines wichtigen Heiligen nach Schottland verbrachte, gab Schottland eine von England unabhängige Identität und etablierte vor allem eine separate schottische Kirche noch vor der irischen und der römischen Mission. Die Schotten benutzten im Jahr 1299 die Legende, um Papst Bonifaz VIII. zur Veröffentlichung einer Bulle zu überreden, in der er Edward I. von England anwies, den Krieg gegen Schottland zu beenden. In der “Erklärung von Arbroath”, die 1320 erschien und auf die Unabhängigkeit Schottlands von England pochte, wird ausdrücklich Andreas als Apostel Schottlands benannt (wenn schon nicht zu Lebzeiten, dann doch wenigstens später in Knochengestalt).
In den nächsten drei Jahrhunderten hatte die römisch-katholische Kirche in Schottland einen schweren Stand, da sie offiziell verboten war und sich nur in entfernten Ecken des Hochlands und der Inseln halten konnte. Erst 1878 wurde sie wieder legalisiert und 1879 mit neuen (angeblichen) Andreas-Reliquien ausgestattet, namentlich einem großen Teil eines Schulterblatts, das in einem vom Marquess of Bute gestifteten vergoldeten Reliquiar platziert wurde. 1969 übergab Papst Paul VI. dem neuernannten schottischen Kardinal Gordon Joseph Gray im Petersdom in Rom mit den Worten “Peter grüßt seinen Bruder Andreas” eine weitere (nicht spezifizierte) Reliquie.
Diese Reliquien sind nicht mehr in St. Andrews untergebracht, sondern befinden sich in der römisch-katholischen St. Mary’s Metropolitan Cathedral in Edinburgh (am östlichen Ende der Neustadt, für Edinburgh-Reisende nicht zu verwechseln mit der weitaus auffälligeren anglikanischen St. Mary’s Episcopal Cathedral im Westen der Neustadt).
Das Andreaskreuz findet sich übrigens auch auf den Marineflaggen von Russland und der Ukraine, es ist Bestandteil der (verpönten) Flagge der konföderierten Staaten von Amerika aus der Zeit des Bürgerkriegs, und die Flagge der kanadischen Provinz Nova Scotia (“Neuschottland”) ist ein Saltire mit vertauschten Farben (blaues Kreuz auf weißem Grund) mit einem Wappen in der Mitte.
Schließlich: Warum hat der Name der Stadt St. Andrews eigentlich keinen Apostroph? Immerhin hieß der Heilige ja “Andrew” und nicht “Andrews” wie die Darstellerin von Mary Poppins und Maria von Trapp, so dass “St. Andrew’s (sc. Town/Church/…)” irgendwie plausibler klingen würde – etwa in Analogie zu “St. John’s” auf der kanadischen Insel Neufundland. (Dort gibt es übrigens auch ein “St. Andrew’s”.) Die einfache Antwort darauf ist, dass die Stadt schon ein paar Jahrhunderte lang “St. Andrews” gehießen hatte, als im 16. Jhdt. der Apostroph in die englische Sprache eingeschleppt wurde. Und wie Tony Simmons im Panama City News Herald bemerkte: “Der heilige Andreas ist schon der Schutzheilige der Fischer und der verlorenen Gegenstände, also braucht er wohl keine zusätzlichen Besitztümer.”