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Schottland und der heilige Andreas

Am 30. November – dem Tag des heiligen Andreas – begeht Schottland seinen Nationalfeiertag. Aber was hat der heilige Andreas mit Schottland zu tun?

Kreuzigung des hl. Andreas, aus dem Menologion Basileios' II.
Kreuzigung des hl. Andreas, aus dem Menologion Basileios' II. (www.patriarchia.ru, gemeinfrei)
Der hl. Andreas gilt als Nationalheiliger von Schottland (wer sowas braucht, aber naja; Tradition ist halt Tradition). Der Sage nach war Andreas – bevor er heilig war – ein Bruder von (Simon) Petrus, mithin ein galiläischer Fischer vom See Genezareth, und gehörte zum “inneren Kreis” der zwölf Apostel. “Andreas” ist natürlich ein griechischer Name – wir kennen keinen hebräischen oder aramäischen Namen für ihn –, aber im weithin hellenistisch beeinflussten Galiläa wäre das nicht komplett abwegig gewesen. Nicht einmal die Bibel hat viel über Andreas zu sagen: In den Matthäus- und Markus-Evangelien wird er zusammen mit Petrus von Jesus zum “Menschenfischer” berufen, während das Johannes-Evangelium ihn zu einem Jünger Johannes des Täufers erklärt, der dann Jesus als Messias erkannte (in der orthodoxen Kirche gilt er daher als Protokletos, “der Erstberufene”). Als Apostel bereiste Andreas laut der Chronik von Nestor aus dem 12. Jhdt. die Küste des Schwarzen Meers und den Lauf des Dnjepr bis zum künftigen Kiew und gelangte bis nach Nowgorod (das erst seit dem 9. Jhdt. belegt ist, aber naja). Deswegen ist Andreas übrigens nicht nur der Nationalheilige von Schottland, sondern auch (ein) Nationalheiliger von Rumänien, der Ukraine und Russlands (was die letzteren beiden angeht, aktuell eventuell ein leichter Gewissenskonflikt). Jedenfalls behauptet die Stadt Patras in Griechenland, dass er dort im Jahr 60 unserer Zeitrechnung als Märtyrer zu Tode kam. Laut der Legende sollte er gekreuzigt werden, aber protestierte, dass ihm als unwürdiger Person nicht dieselbe Sorte Kreuz zukäme wie Jesus, so dass er schließlich am X-förmigen “Andreaskreuz” starb. (Zum “Andreaskreuz” später mehr.) Allerdings kam diese Geschichte erst im 10. Jhdt. allmählich auf und wurde frühestens im 16. Jhdt. zum Standard.

Was die Verbindung von Andreas zu Schottland angeht, gibt es mehrere Hypothesen. Die eine sagt, dass er es als weitgereister Apostel tatsächlich bis nach Schottland schaffte und dort eine Kirche gründete (natürlich in St. Andrews), die zu einem wichtigen Wallfahrtsort wurde. Belege dafür gibt es natürlich nicht im geringsten. Eine zweite fromme Legende verweist auf den heiligen Regulus (“St. Rule” im angelsächsischen Sprachgebrauch). Dieser wirkte wohl im 4. Jhdt. in Patras als Mönch oder Bischof – Genaues weiß man nicht – und wurde im Jahr 345 in einem Traum von einem Engel darauf aufmerksam gemacht, dass der Kaiser Konstantin beschlossen habe, die Reliquien des heiligen Andreas von Patras nach Konstantinopel umzuziehen (Konstantin “der Große”, der die Christenverfolgung im Römischen Reich offiziell beendet hatte, war zwar schon 337 gestorben, und auch sein Sohn Konstantin II. war 340 in Italien ermordet worden, aber naja). Der Engel beauftragte Regulus damit, so viele Knochen wie möglich so weit wie möglich ans “Ende der Welt” zu schaffen, dort dem heiligen Andreas eine Kirche zu bauen, und die Reliquien so in Sicherheit zu bringen. Angeblich hatte Regulus, als er sich auf den Weg machte, einen Zahn des heiligen Andreas im Gepäck, eine Kniescheibe, einen Oberarmknochen und drei Finger von dessen rechter Hand. (Der größte Teil des Rests kam tatsächlich ungefähr um 357 nach Konstantinopel und wurde dort in der – heute nicht mehr existenten – Apostelkirche untergebracht. Bei der Plünderung Konstantinopels durch französische und venezianische Kreuzfahrer 1204 wurden diverse Reliquien nach Westeuropa verschleppt; der päpstliche Legat Kardinal Peter von Capua brachte die Überreste des heiligen Andreas zu deren Schutz (!?) in seine Heimatstadt Amalfi. Heute befinden sich Reliquien des heiligen Andreas außer in Patras, im Dom von Amalfi und in Schottland noch in der Kathedrale von Sarzana in Italien sowie der Kirche des hl. Andreas und des hl. Albert in Warschau, Polen, außerdem in kleineren Mengen anderswo. Es ist kompliziert.)

Je nachdem, welchem Bericht man glauben will, wurde Regulus entweder von einem Engel angewiesen oder durch einen Schiffbruch genötigt, am Ufer des Königreichs Fife im Osten von Schottland an Land zu gehen, namentlich bei einer piktischen Siedlung namens Kilrymont, dem heutigen St. Andrews. Dort traf er angeblich den Piktenkönig Óengus (der allerdings in Wirklichkeit im 8. Jhdt. lebte, aber naja). Wieder andere Quellen behaupten, Regulus sei ein irischer Mönch gewesen, der am Ende des 6. Jahrhunderts zusammen mit dem hl. Columban aus Irland vertrieben wurde.

St. Rule's Tower, St. Andrews
St. Rule's Tower, St. Andrews (Kim Traynor, CC BY-SA 3.0)
So oder so waren die Reliquien des heiligen Andreas in Schottland angekommen – in Wirklichkeit gelangten sie wahrscheinlich im Rahmen der Gregorianischen Mission 597 nach Britannien und dann 732 mit Bischof Acca von Hexham nach Fife. (Andere Quellen sagen, dass Acca, ein passionierter Reliquien-Sammler, die Reliquien des heiligen Andreas selbst von einer Rom-Reise mitgebracht hatte.)

Legenden zufolge, die in Quellen aus dem 16. Jhdt. niedergeschrieben wurden, führte der Piktenkönig Óengus II. im Jahr 832 eine Armee von Pikten und Skoten gegen Æthelstan, den König der Angeln, ins Feld. Es kam zu einer Schlacht in der Nähe des heutigen Athelstaneford in East Lothian. Óengus’ Heer befand sich deutlich in der Unterzahl und am Vorabend gelobte der König, im Falle eines Sieges den hl. Andreas zum Nationalhelden von Schottland zu erklären. Am Morgen der Schlacht bildeten weiße Wolken ein X am blauen Himmel, diese offensichtlich göttliche Intervention motivierte die Pikten und Skoten zum Sieg, und das Design des Saltire, der schottischen Flagge, war geboren. So jedenfalls die Sage. Schon vorher – 664 – hatte die keltische Kirche auf der Synode von Whitby vermutet, dass Petrus ein “höhergestellter” Heiliger sei als Columban, und dass Petrus’ Bruder Andreas daher wohl einen besseren Schutzheiligen abgeben dürfte als der kurz vorher verblichene Ire.

Den heiligen Andreas als Nationalheiligen zu zementieren war im späten Mittelalter ein wichtiger politischer Schritt, weil England die Oberherrschaft über Schottland beanspruchte und die schottische Kirche die Behauptung abwehren musste, dem Erzbischof von York untergeben zu sein. Die Legende vom heiligen Regulus, die schon im 4. Jhdt. die Reliquien eines wichtigen Heiligen nach Schottland verbrachte, gab Schottland eine von England unabhängige Identität und etablierte vor allem eine separate schottische Kirche noch vor der irischen und der römischen Mission. Die Schotten benutzten im Jahr 1299 die Legende, um Papst Bonifaz VIII. zur Veröffentlichung einer Bulle zu überreden, in der er Edward I. von England anwies, den Krieg gegen Schottland zu beenden. In der “Erklärung von Arbroath”, die 1320 erschien und auf die Unabhängigkeit Schottlands von England pochte, wird ausdrücklich Andreas als Apostel Schottlands benannt (wenn schon nicht zu Lebzeiten, dann doch wenigstens später in Knochengestalt).

St. Mary's Metropolitan Cathedral, Edinburgh
St. Mary's Metropolitan Cathedral, Edinburgh (Ad Meskens, CC BY-SA 3.0)
Womit wir wieder bei den Knochen wären, und man mag sich fragen, was eigentlich inzwischen mit ihnen passiert ist. Ungefähr 1070 ließ Robert I., der Prior von St. Andrews, dortselbst eine dem hl. Regulus geweihte Kirche erbauen, um die Reliquien standesgemäß unterzubringen und Pilgern zugänglich zu machen. Das war nötig, denn der heilige Andreas hatte als mittelalterliches Pilger-Ziel einen Stellenwert erreicht, der nur noch vom heiligen Jakob im spanischen Compostela übertroffen wurde. Das Einzige, was von dieser Kirche noch übriggeblieben ist, ist “St. Rule’s Tower”, eine 33 Meter hohe, weithin sichtbare Landmarke; statt dessen wurde von 1160 bis 1318 eine riesige Kathedrale, bei weitem die größte in Schottland und eine der größten auf den britischen Inseln, errichtet und dem hl. Andreas geweiht. Auch von dieser Kathedrale stehen nur noch Ruinen – im Juni 1559 wurde sie von der fanatischen Gefolgschaft des Reformators John Knox weitestgehend zerstört, und das war auch das Ende der Reliquien aus Regulus’ Gepäck.

In den nächsten drei Jahrhunderten hatte die römisch-katholische Kirche in Schottland einen schweren Stand, da sie offiziell verboten war und sich nur in entfernten Ecken des Hochlands und der Inseln halten konnte. Erst 1878 wurde sie wieder legalisiert und 1879 mit neuen (angeblichen) Andreas-Reliquien ausgestattet, namentlich einem großen Teil eines Schulterblatts, das in einem vom Marquess of Bute gestifteten vergoldeten Reliquiar platziert wurde. 1969 übergab Papst Paul VI. dem neuernannten schottischen Kardinal Gordon Joseph Gray im Petersdom in Rom mit den Worten “Peter grüßt seinen Bruder Andreas” eine weitere (nicht spezifizierte) Reliquie.

Diese Reliquien sind nicht mehr in St. Andrews untergebracht, sondern befinden sich in der römisch-katholischen St. Mary’s Metropolitan Cathedral in Edinburgh (am östlichen Ende der Neustadt, für Edinburgh-Reisende nicht zu verwechseln mit der weitaus auffälligeren anglikanischen St. Mary’s Episcopal Cathedral im Westen der Neustadt).

Unionsflagge von 1606
Unionsflagge von 1606
Nochmal zurück zum Saltire, der schottischen Flagge mit dem weißen Andreaskreuz auf blauem Grund: Das Wort kommt von dem mittelalterlich-lateinischen saltatoria (“Steigbügel”) auf dem Umweg über das mittelfranzösische sautoir. Schon 1385 verfügte das schottische Parlament, dass jeder schottische oder französische Soldat, der gegen England unter Richard II. kämpfte, auf Brust und Rücken ein “weißes Andreaskreuz” tragen sollte. Bei der Vereinigung der Monarchien von Schottland und England 1606 wurden die englische Flagge – das rote “Georgskreuz” auf weißem Grund – und der schottische Saltire zusammengefügt (die heute bekannte Form mit den roten Schrägstreifen kam erst beim Anschluss Irlands 1801 zustande). Die Schotten waren natürlich empört über die neue Flagge, auch wenn diese zuerst nur von der Marine benutzt werden sollte; für schottische Schiffe wurde inoffiziell eine Alternative in Umlauf gebracht, wo der Saltire “obenauf” lag und die Mitte des Georgskreuzes überdeckte. Diese Variante wurde auch bei der Union of Parliaments 1707 als allgemein gültige Flagge vorgeschlagen, wobei Königin Anne und ihr Privy Council sich allerdings für die schon bei der Royal Navy etablierte Version entschieden (einige schottische Zähne dürften ob dieser treulosen Tat der letzten Stuart-Monarchin geknirscht haben).

Das Andreaskreuz findet sich übrigens auch auf den Marineflaggen von Russland und der Ukraine, es ist Bestandteil der (verpönten) Flagge der konföderierten Staaten von Amerika aus der Zeit des Bürgerkriegs, und die Flagge der kanadischen Provinz Nova Scotia (“Neuschottland”) ist ein Saltire mit vertauschten Farben (blaues Kreuz auf weißem Grund) mit einem Wappen in der Mitte.

Schließlich: Warum hat der Name der Stadt St. Andrews eigentlich keinen Apostroph? Immerhin hieß der Heilige ja “Andrew” und nicht “Andrews” wie die Darstellerin von Mary Poppins und Maria von Trapp, so dass “St. Andrew’s (sc. Town/Church/…)” irgendwie plausibler klingen würde – etwa in Analogie zu “St. John’s” auf der kanadischen Insel Neufundland. (Dort gibt es übrigens auch ein “St. Andrew’s”.) Die einfache Antwort darauf ist, dass die Stadt schon ein paar Jahrhunderte lang “St. Andrews” gehießen hatte, als im 16. Jhdt. der Apostroph in die englische Sprache eingeschleppt wurde. Und wie Tony Simmons im Panama City News Herald bemerkte: “Der heilige Andreas ist schon der Schutzheilige der Fischer und der verlorenen Gegenstände, also braucht er wohl keine zusätzlichen Besitztümer.”